Berlin – In der kommenden Woche stimmt das Europaparlament über das bisher ambitionierteste Handelsabkommen mit einem Entwicklungsland nach EU-Definition ab: Nach acht Jahren Verhandlungen steht der Freihandelsvertrag mit Vietnam kurz vor der Ratifizierung. Das Abkommen ist für die deutsche Wirtschaft von großer Bedeutung, denn Vietnam ist mit einem Handelsvolumen von rund 14 Milliarden Euro – vergleichbar mit Kanada – Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner in der ASEAN-Region. In Zeiten zunehmender internationaler Handelskonflikte und einer Erosion der Welthandelsregeln ist das neue Abkommen ein wichtiges Zeichen für regelbasierten Handel und fairen Wettbewerb. Was bedeutet das für die deutsche Wirtschaft konkret?
Abkommen bietet große Chancen
Weltweit macht zunehmender Protektionismus den auslandsaktiven deutschen Unternehmen zu schaffen. Eine ambitionierte europäische Handelspolitik mit dem Ziel wirtschaftsfreundlicher Rahmenbedingungen ist für die Betriebe wichtig, um auch in Zukunft erfolgreich international tätig sein zu können. Das EU-Vietnam-Abkommen setzt hierfür die richtigen Akzente: Es wird im Laufe der nächsten Jahre alle verbleibenden Zölle auf beiden Seiten abschaffen, den Dienstleistungshandel erleichtern, den Zugang zu Beschaffungsmärkten garantieren sowie die regulatorische Kooperation vereinfachen. Neue Chancen liegen insbesondere in den Bereichen Maschinen, Kraftfahrzeuge, Textilien, Pharma, Lebensmittel und Chemie. Durch die Abkommen werden zudem 169 geografische Herkunftsbezeichnungen der EU wie etwa Bayerisches Bier, Moselwein und Lübecker Marzipan geschützt. Das EU-Vietnam-Investitionsschutzabkommen beinhaltet ein reformiertes Streitbeilegungsverfahren und soll bilaterale Investitionsschutzabkommen der EU-Mitgliedstaaten ersetzen. Mehr als 4.000 deutsche Betriebe exportieren bereits nach Vietnam, davon sind 69 Prozent kleine und mittlere Unternehmen (KMU).
EU sollte Engagement in Asien ausbauen
Aus Sicht der deutschen Wirtschaft wäre es wichtig, dass die EU mit weiteren Partnern in der Region und insbesondere den ASEAN-Ländern nachzieht – gerade auch, um die EU-Strategie zur besseren wirtschaftlichen Verbindung von Europa und Asien mit Leben zu füllen. Immerhin ist ASEAN der drittwichtigste Handelspartner der EU außerhalb Europas. Zudem herrscht zwischen den Ländern dort große Betriebsamkeit: Anfang 2019 ist die Transpazifische Partnerschaft trotz des US-Ausstiegs in Kraft getreten, und Länder wie Thailand und Großbritannien signalisieren bereits Beitrittswillen. Im November 2019 gelang zudem der Durchbruch bei den Verhandlungen des Freihandelsprojekts Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), das neben den zehn ASEAN-Mitgliedern unter anderem China und Südkorea einbezieht.
Diese Abkommen sollte die EU als Ansporn nehmen, um die Handelsbeziehungen zu Südostasien zu intensivieren. Mittelfristiges Ziel wäre ein umfassendes EU-Abkommen mit allen ASEAN-Staaten. Außerdem wäre es aus Sicht der deutschen Wirtschaft wünschenswert, wenn die neue EU-Kommission die Verhandlungen mit Indonesien und den Philippinen ehrgeizig vorantriebe. Und nicht zuletzt wäre eine Wiederaufnahme der Gespräche mit Malaysia und Thailand ein bedeutender Schritt, damit die EU in Südostasien nicht ins handelspolitische Hintertreffen gerät.
Praxistaugliche Abkommen sind für Unternehmen entscheidend
Freihandelsabkommen müssen sich im täglichen Geschäft beweisen. In einigen Abkommen sind die Regelungen allerdings so komplex, dass vor allem KMU sie kaum nutzen können. Ganz oben auf die To-do-Liste der EU gehört daher die Unterstützung des Mittelstandes bei der Umsetzung von Freihandelsabkommen. Denn obwohl Unternehmen immer internationaler denken, hat die Internationalisierung von KMUs weiterhin bedeutendes Ausbaupotential. Die EU muss deshalb für unternehmensnahe Abkommen sorgen – insbesondere durch einfache und einheitliche Regeln für den Warenursprung und für die Ausfertigung von Ursprungsnachweisen. Durch eine mittelstandsfreundliche Ausrichtung und Fortentwicklung der EU-ASEAN-Handelsbeziehungen kann die EU von den großen Potenzialen der Region profitieren.